Ruhende Räume mobilisieren
Öffentliche Räume in Einfamilienhausgebieten sind vor allem für den Verkehr bestimmt. Wie können ruhende Räume rund um das Einfamilienhaus mobilisiert werden?
Ein Umzug in ein Einfamilienhaus ist mit einer Veränderung des Mobilitätsverhaltens verbunden. Denn in einem Einfamilienhaus zu leben, bedeutet oftmals, am Orts- oder Stadtrand, bzw. im Umland zu wohnen. Viele alltägliche Wege – sei es zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Kita oder Schule – können meist nicht mit dem öffentlichen Verkehr, zu Fuß oder mit dem Rad bewältigt werden. Dadurch wird nicht nur die Art und Weise beeinflusst, wie wir von A nach B kommen, sondern auch die Gestaltung des Wohnumfeldes: Die Pkw-Abhängigkeit wirkt sich auf den öffentlichen Raum aus, der insbesondere durch Flächen für den ruhenden Verkehr geprägt ist. Parkplätze, Garagen und Garagenhöfe bestimmen das Bild.
Ein akademisches Problem?
Aus der Perspektive der Stadtplanung ist Mobilität in Einfamilienhausgebieten seit vielen Jahren eine große Herausforderung. Bestimmend sind Pkw-Abhängigkeit und viele Verkehrsflächen sowie fehlende Infrastruktur für Versorgung und Soziales. Doch sind diese Themen auch relevant für die Menschen, die in Einfamilienhausgebieten wohnen? Nach zahlreichen Gesprächen mit Bewohner:innen kommen wir zum Schluss: Für diese “planerischen” Herausforderungen finden die Bewohner:innen ihre ganz eigenen Lösungen. Die Nutzung eines Pkw als primäres Fortbewegungsmittel wird nicht als Problem angesehen, sondern ist nach wie vor die bequemste Art der Fortbewegung. Und sind die Wege zum nächsten Supermarkt zu weit, wird ein Lieferservice beauftragt, der die wöchentlichen Einkäufe nach Hause bringt. Ältere Bewohner:innen, die das eigene Auto nicht mehr nutzen können und die weiten Wege zum öffentlichen Verkehr nicht mehr bewältigen können, greifen im Notfall auf ein Taxi zurück. Vereinzelt wird das E-Bike zunehmend in Betracht gezogen, auch wenn es gerade bei der älteren Generation jedoch eher in der Freizeit genutzt wird und weniger als alltägliches Fortbewegungsmittel dient.
"Die Busanbindung ist schlechter geworden. Aber da wir zwei Autos haben, ist für uns das Thema Mobilität kein Problem.”
Straße, Gehweg, Straße, Gehweg
Ein Leben ohne Auto ist für die meisten EFH-Bewohner:innen keine Option. Und auch vor weiten Pendlerstrecken schrecken immer weniger Menschen zurück. Im suburbanen Raum, wie z.B. in der Region Stuttgart, legt ein Pkw durchschnittlich 32 km zurück
"Also auf eine Garage würden wir niemals verzichten. Aufgrund von den ganzen sommer- und winterlichen Temperaturunterschieden, wollen wir immer die Möglichkeit haben, trocken ins Auto zu kommen und das Auto soll nicht die ganze Zeit in der Hitze stehen.”
Orte statt Räume
Neben der drängenden Frage, ob wir uns das Auto aufgrund seiner Klimaauswirkungen noch leisten können, treten städtebauliche Fragestellungen. Die Homogenität des öffentlichen Raumes und der Übergangszonen hat Auswirkungen auf das das öffentliche und nachbarschaftliche Leben in Einfamilienhausgebieten. Denn diese wichtigen Übergangsräume zum privaten, individuellen Raum laden nicht zu Begegnungen ein. Eine Bewohnerin verrät uns: “Ich verlasse das Haus morgens, mache meine Erledigungen, komme abends zurück und habe niemanden gesehen.” In vielen Gesprächen mit Einfamilienhausbewohner:innen bestätigt sich diese Einschätzung. Es fehlen Orte des Austauschs, an denen Gemeinschaft entstehen und gefördert werden kann, obwohl doch das Einfamilienhausgebiet genau diese Nachbarschaftlichkeit verspricht. Eine mögliche Erklärung ist diese: Die Gestaltung und Struktur von Siedlungen haben einen Einfluss darauf, ob und wo Menschen sich begegnen. In Einfamilienhausgebieten lässt die Struktur und die Pkw-konforme Straßengestaltung Begegnung oftmals nicht zu. Gernot Pohl, Leiter des Stadtplanungsamtes in Kirchheim unter Teck sagt: “Wir erzeugen mit dem Einfamilienhaus Strukturen, die dem Nestbautrieb frönen. Wenn die Kinder entfliegen, dann befindet man sich plötzlich in einer Siedlungsstruktur, die auf Isolation ausgerichtet ist. Und obwohl sich alle Nachbar:innen in der gleichen sozialen, wirtschaftlichen und demografischen Situation befinden, findet man doch nicht zueinander. Es gibt auch keinen Ort, an dem man niederschwellig über eine Veränderung der Wohnsituation nachdenken könnte.”
Wo könnten diese wichtigen Begegnungsräume entstehen? Wir vermuten ein großes Potenzial im öffentlichen Raum, der dem ruhenden Verkehr in Einfamilienhausgebieten gewidmet ist. Auch Prof. Susanne Dürr, Architektin und Vizepräsidentin der Architekten und Architektinnenkammer Baden-Württemberg hebt in einem unserer Workshops die Wichtigkeit dieser Orte hervor: "Wir haben wenig Spielräume durch die Eigentumsquote. Wir sollten uns auf Eingriffsmöglichkeiten konzentrieren, die bestehen: Infrastruktureinrichtungen, Straßen, Stellplatzsatzungen.” Aber wie können wir diese ruhenden Räume mobilisieren? Vor allem im Hinblick auf das große Spannungsfeld, was sich auftut, zwischen Gewohnheit und fehlenden Alternativen?
In einem Entwurfsseminar an der Hochschule für Technik Stuttgart sind Studierende aus den Fachbereichen Architektur und Stadtplanung diesem Potenzial auf die Spur gegangen. Es wurden architektonische und städtebauliche Lösungsvorschläge für die Räume des ruhenden Verkehrs erarbeitet. In der vorausgegangenen Analyse war deutlich geworden, dass Stellplätze und Garagen oftmals nicht mehr für das Abstellen eines Pkw genutzt werden. In einem nachträglichen Feedbackgespräch mit den Bewohner:innen wurde deutlich: Insbesondere die Umgestaltung der bestehenden Garagen und Garagenhöfe haben die Bewohner:innen beeindruckt. Es scheint, als würden Veränderungen “vor den eigenen vier Wänden” nicht ganz so bedrohlich wirken. Veränderungen im eigenen Haus wirken hingegen oftmals abschreckend. Daher macht es Sinn, die Entwicklung der Gebiete auch einmal explizit vom öffentlichen Raum her zu denken: von den Straßen, den Spielplätzen, den öffentlichen Parkplätzen.
Was können wir tun
Die Stadt von der Straße aus denken
Studierende der Stadtplanung analysierten eine Siedlung in Kirchheim unter Teck und stießen auf eine Vielzahl von Garagenhöfen, die sich außerhalb des privaten Grundstückes befinden. Sie entwickelten den Vorschlag, die vormals monofunktionell genutzten Räume, die heute teilweise nur noch Lagerflächen sind, in Zukunft den Bewohner:innen und der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. So entstehen neue Qualitäten, die die Nachbarschaft bereichern und beleben. Gleichzeitig regt es die Bewohner:innen zu einer Auseinandersetzung mit dem Raum außerhalb ihrer privaten Grundstücke an. So bestätigt ein Bewohner in unserer nachträglichen Feedbackrunde: Das Garagenhofprojekt hat dazu angeregt, über das eigene Wohnen nachzudenken. Als Vorbild zur Überbauung von Garagenhöfen zogen die Studierenden ein Projekt aus Karlsruhe heran (Bauherrin: Volkswohnung Karlsruhe, Architekt: Dr. Falk Schneemann).
Auf Grundlage dieser konzeptionellen Vorüberlegungen widmeten sich Studierende der Innenarchitektur der genauen Ausarbeitung einer Garagen(hof)überbauung.
Private Garagen zu Wohnräumen transformieren
Eine weitere studentische Gruppe erarbeitete in Zusammenarbeit mit einer Einfamilienhaus-Bewohnerin das Projekt “Parkst du noch oder lebst du schon”. Idee war es, die bestehende, sehr große Doppelgarage zu einem Co-Working Bereich umzubauen und damit auf die ganz persönlichen Probleme der Familie einzugehen. Frau Blum (Name pseudonymisiert) arbeitet im Home-Office und fühlt sich, wenn Mann und Kinder nicht im Haus sind, oftmals isoliert. Von den vier Stellplätzen auf dem Grundstück nutzt die Familie lediglich einen. Die Garage mit zwei Stellplätzen misst 55 Quadratmeter und umfasst damit beinahe die Fläche einer 2-Zimmer-Wohnung. Diese Fläche wurde in einem ersten Schritt in einen Co-Working Bereich für Frau Blum und weitere potenzielle Nutzer:innen umgestaltet. Später kann dort eine barrierefreie, altersgerechte Wohnung entstehen. Herr und Frau Blum wünschen sich auch im Alter eine räumliche Nähe zu ihren Kindern, idealerweise an ihrem jetzigen Wohnort. Durch den Vorschlag, zwei getrennte Wohnungen auf dem Grundstück unterzubringen, kann der typische Lebenszyklus eines Einfamilienhauses durchbrochen werden. Bauliche Anpassungen ermöglichen vielfältige Nutzungen für unterschiedliche Bedürfnisse und beugen inneren Leerständen vor.
Quellen
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1
Nobis, Claudia; Kuhnimhof, Tobias 2018: Mobilität in Deutschland - MiD Ergebnisbericht, Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur, Bonn, Berlin. www.mobilität-in-deutschland.de, Seite 48
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2
Statistisches Landesamt Stand Baden-Württemberg 2023, Bestand an Kraftfahrzeugen in Baden-Württemberg seit 1950, Zugriff am 13. November 2023 auf https://www.statistik-bw.de/Verkehr/KFZBelastung/LRt1503.jsp
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3
Nobis, Claudia; Kuhnimhof, Tobias 2018: Mobilität in Deutschland - MiD Ergebnisbericht, Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale INfrastruktur, Bonn, Berlin. www.mobilität-in-deutschland.de, Seite 76
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4
Zukunft Mobilität 2014, Vergleich unterschiedlicher Flächeninanspruchnahmen nach Verkehrsarten (pro Person), Zugriff am 13. November 2023 auf https://www.zukunft-mobilitaet.net/78246/analyse/flaechenbedarf-pkw-fahrrad-bus-strassenbahn-stadtbahn-fussgaenger-metro-bremsverzoegerung-vergleich/
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Thomas Wolf