Das Leben nach dem Einfamilienhaus
Bewohner:innen von Einfamilienhäusern können sich in der Regel nicht vorstellen, ihr Einfamilienhaus gegen eine alternative Wohnform zu tauschen. Welche Unsicherheiten und Ängste sprechen gegen eine Wohnveränderung?
Trautes Heim, Glück allein?
In der Zusammenarbeit mit Einfamilienhaus-Bewohner:innen stellten wir immer wieder die Frage, ob ein Leben „nach dem Einfamilienhaus“ für sie grundsätzlich vorstellbar wäre. Die Antwort, die sich bei unseren Befragungen abzeichnete, lautete dabei oftmals: „Nein!”. Wurde die Frage von jüngeren, erst am Anfang ihrer Wohnkarriere stehenden Bewohner:innen, noch mit einem „vielleicht” beantwortet, konnten sich vor allem ältere Bewohner:innen eine andere Wohn- und damit auch Lebensform nicht vorstellen.
Unsere Beobachtung spiegelt sich auch in einer repräsentativen Studie in Steinfurt wider: So konnten sich 50% der Befragten nicht vorstellen, in ein Mehrgenerationenhaus zu ziehen, ein Umzug in ein Mehrfamilienhaus verneinten sogar 73%. Ein Tausch des Eigenheims gegen eine altersgerechte Wohnung war für 59% der Befragten nicht vorstellbar. Der Bau eines altersgerechten Hauses auf dem Grundstück – und dazu zählt auch das aktuell oft genannte Allheilmittel “Tiny-House” – können sich 86% nicht vorstellen
Wir sind der Frage nachgegangen und haben mit Einfamilienhaus-Bewohner:innen ein neues, innerstädtisches Wohnquartier besucht, das die Stadt Kirchheim unter Teck in einem kooperativen Prozess entwickelt hat. Die Planung hatte unter anderem zum Ziel, in den Empty-Nestern der Einfamilienhausgebiete eine Umzugsbewegung auszulösen: und zwar durch die Errichtung von qualitätsvollen, barrierefreien Wohnformen, die in nächster Nähe zu medizinischen, sozialen und kulturellen Einrichtungen gelegen sind. Studierende befragten im Zuge unseres Seminars „Die Zukunft des Einfamilienhauses” die Bewohner:innen der Einfamilienhäuser: „Käme für Sie ein Umzug in das neue Stadtquartier in Frage?“ Diese Frage wurde in den meisten Fällen klar verneint. In einer gemeinsamen Reflexionsrunde führte ein Bewohner die Antwort noch einmal genauer aus: "Ich würde nicht gern ins Steingauquartier ziehen. Es ist mir zu massiv. Aber es gibt auch Bewohner:innen aus dem Schafhof, die sich für einen Umzug dorthin entschieden haben.” sagt Herr Wimmel, ein Einfamilienhaus-Bewohner.
Wir fragen uns: woher kommen diese starken Bedenken? Warum entsteht der Gedanke, dass das Leben in einer anderen Wohnform weniger Lebensqualität bedeutet? Der Leiter des Stadtplanungsamtes von Kirchheim unter Teck, der an der Planung des neuen Quartiers maßgeblich beteiligt war, vermutet: “Die Vorstellung von Veränderung führt zu Angst. Aber nur zu einer Vorstellung von Angst. Wenn Sie jemanden im Steingauquartier kennen würden, dann würde auch jemand aus einer EFH-Wohnsituation anfangen zu erkennen, dass es eigentlich ganz nett ist. Denn wie man lebt, hat damit zu tun, welche Beispiele man kennt und wahrnimmt. Viele entscheiden sich für das gut bekannte Wohnideal des Einfamilienhauses.”
Die Vorstellung von Veränderung führt zu Angst.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, viele von uns wachsen in einem Einfamilienhaus auf und verbinden Glück nur mit dem „trauten Heim“. Kann es uns gelingen, neue Perspektiven auf das Wohnen zu eröffnen, indem wir alternative Wohnweisen kennenlernen, aus nächster Nähe betrachten und uns persönliche Wohngeschichten näher gebracht werden? Um dieser Frage nachzugehen, haben wir uns für eine Exkursion mit Einfamilienhaus-Bewohner:innen in das neue Stadtquartier verabredet. Dabei sollen die Bewohner:innen mit ehemaligen Einfamilienhaus-Bewohner:innen persönlich ins Gespräch kommen, um Wohnbiografien „nach dem Einfamilienhaus“ kennen zu lernen, auf Vorurteile einzugehen und gemeinsam herauszufinden, woher diese kommen.
Ein Besuch im Steingauquartier
Wir besuchen das Steingauquartier im Mai 2023. Nachdem wir einen Einblick in die Geschichte des Quartiers erhalten haben, wurden die unterschiedlichen Wohnformen vorgestellt, die hier entstanden sind: so zum Beispiel Gartenwohnungen, Clusterwohnungen, Stadthäuser (nach niederländischem Vorbild) oder Senior:innen-Wohngemeinschaften. Hier merkt der Leiter des Stadtplanungsamtes an, dass die jetzigen Jung-Senior:innen Wohngemeinschaften aus ihrer eigenen Wohnkarriere kennen. Aber nicht nur die Vielzahl an unterschiedlichen Wohnformen steht im Mittelpunkt: Durch ein kooperatives Verfahren gelingt es der Gemeinde, die Menschen kreativ werden zu lassen. Unter anderem durch die intensive Beteiligung der zukünftigen Bewohner:innen an der Gestaltung ihrer Lebensräume. Als Ziel nennt der Amtsleiter:
“Wir wollen die Menschen zu Siedlern werden lassen, nicht nur zu Bewohnenden.”
Wir beginnen unsere Erkundung durch das Quartier. Die Straßen sind noch nicht fertiggestellt, aber an vielen Ecken ist bereits ein Quartiersleben erkennbar. Wir bemerken, dass der öffentliche Raum eine sgroße Bedeutung für das Quartier hat. Er ermöglicht spontane Begegnungen und durch die aktiven Erdgeschosszonen entsteht eine Schnittstelle zwischen Haus und Quartier. Die Innenhöfe werden von den Bewohner:innen gemeinschaftlich bewirtschaftet und genutzt. Aber angrenzend an die gemeinschaftlichen Höfe gibt es auch private Grünflächen. Zäune entdecken wir nur wenige. Die Gestaltung lässt damit eine Durchlässigkeit zwischen privatem und öffentlichem Raum zu. Auch in dem Einfamilienhausgebiet, in dem die Bewohner:innen leben, gab es beim Erstbezug der Häuser in den 1970er Jahren ein Zaunverbot. Die Hecken waren niedrig und Begegnungen zwischen Nachbar:innen waren möglich. Heute sind die Hecken hoch und dicht gewachsen und schirmen die privaten Bereiche vom öffentlichen Raum ab. Ein Bewohner sagt: “Ich mag meinen Wald.”
Die grün gestalteten Höfe gefallen den Einfamilienhaus-Bewohner:innen sehr gut, viele Fragen drehen sich um die Gestaltung der öffentlichen Räume und Fragen der Barrierefreiheit. Aber auch die Häuser, teilweise errichtet und belebt, teilweise noch im Bau, werden von den Einfamilienhaus-Bewohner:innen genau betrachtet. Einige der neu gebauten Gebäude gefallen ihnen, vor allem die Holzbauten und die Gebäude mit Satteldach. Es werden aber auch viele Gebäude kritisch bewertet, vor allem die modern gestalteten Gebäude mit vielen bunten Elementen.
“Hypermodern gefällt mir gar nicht”
Wir diskutieren über Gestaltung und Geschmack und stellen fest: Das Aussehen ist nicht das Wichtigste. Viel wichtiger ist es, ob die Menschen ihren Wohnort als „ihren“ anerkennen, hegen und pflegen. Je länger wir durch das Quartier wandern und je mehr Wohnhöfe wir entdecken, desto mehr können sich die Einfamilienhaus-Bewohner:innen mit dem Gedanken anfreunden, hier einmal zu leben . Allerdings erst, wenn man nicht mehr zu zweit, sondern alleine in einem Einfamilienhaus zurückbleibt. Ein Umzug in eine andere Wohnform hängt also unmittelbar mit dem Partner oder der Partnerin zusammen. Ein Leben alleine im Haus ist für viele nicht vorstellbar.
Mittlerweile sind wir am letzten Hof angekommen, in einem Gebäude befindet sich ein Mehrzweckraum mit Co-Working Space. Ein Einfamilienhaus-Bewohner fragt nach der deutschen Bedeutung und Frau Wimmel übersetzt: „Alle schaffe an einem Platz!”. Im Gemeinschaftsraum kommen wir mit einem ehemaligen Einfamilienhaus-Bewohner ins Gespräch, der in das Steingauquartier gezogen ist. Er erzählt von seiner Wohnbiografie: Nach dem Tod seiner Frau entschied er sich, das gemeinsame Einfamilienhaus zu verkaufen und in ein gemeinschaftliches Wohnumfeld zu ziehen. Es war für ihn nicht vorstellbar, alleine in seinem Einfamilienhaus zu wohnen. Der Haushalt, der Garten, alles Pflichten, um die er sich ohne seine Frau nicht kümmern möchte. Mit dem Umzug erscheint ihm bisher Gewohnte nachteilig:
„Erst als ich ins Steingauquartier gezogen bin, habe ich gemerkt, dass ich mich 15 Jahre lang isoliert habe. Er beschreibt seine aktuelle Lebenssituation in einer der Mietwohnungen. Er berichtet auch über die Vorteile in der Zukunft. “Man muss nicht in eine vollkommen neue Umwelt gepflanzt werden, wenn etwas Schlimmes passiert. Hier zu wohnen ist eine Erleichterung.” Es kommt die Frage auf, ob die unterschiedlichen Altersgruppen und Haushaltsformen nicht auch manchmal stören: “Nachts ist hier weniger los als da, wo ich herkomme. Und tagsüber habe ich lieber einen Spielplatz vor der Tür als Friedhofsruh."
Wenn du dann auch noch schlagartig alleine bist, musst du anfangen, das fehlende familiäre Gefühl zu ersetzen. Das kann man gut, wenn man in Gemeinschaft ist.
Den Einfamilienhaus-Bewohner:innen ist über den Tag aufgefallen, dass gelegentliche Begegnungen das Quartier prägen, man grüßt sich, wechselt ein paar Worte. Herr Wimmel stellt die Frage, ob in einem neu errichteten Quartier Freundschaften aufgebaut werden könnten, die man sonst eher in einem Einfamilienhausgebiet mit langjährigen Nachbar:innen, vermutet. Herr Benz erwidert, dass es sehr gut möglich sei, neue Kontakte zu knüpfen, wenn man die Initiative ergreift und aktiv auf die Menschen zugeht. Es könnten echte Beziehungen entstehen. Er übernimmt beispielsweise bereits die Rolle eines „Leihopas“.
Der Abend neigt sich dem Ende entgegen. Nach einem gemeinsamen Essen blicken wir noch einmal in die Runde und reflektieren das Gesehene und das Erfahrene. Wir stellen fest, dass sich durch unsere gemeinsame Erkundung und Diskussion viele Vorurteile auflösen konnten: Angst vor Anonymität, vor einem Leben in einer Dauerbaustelle, vor zu viel Enge und Dichte, zu wenig Grünraum und fehlender Privatsphäre. Der Blick in das Quartier, hinter die Fassade und das Gespräch mit einem Bewohner, der beide Wohnoptionen kennt, hat aus dem „nein” zwar kein „ja” gemacht, aber ein „vielleicht”. Allein die Tatsache, dass sich Einfamilienhaus-Bewohner:innen für die Thematik interessieren und der Wille da ist, sich nicht nur mit der eigenen Wohnung, sondern auch den Alternativen auseinanderzusetzen, zeigt das darin verborgene Potenzial. Es schafft Mut, weiter über das Leben im Einfamilienhaus nachzudenken und die Frage, ob das bisher vorausgesetzte „lebenslange Wohnen“ im eigenen Einfamilienhaus immer die richtige Option ist, zu vertiefen.
Was können wir tun
Kümmerer
“Von allein kommt es nicht.” Es braucht nicht nur Räume, in denen die Vorstellungskraft von Bewohner:innen erweitert werden können, sondern auch Personen, die Initiative ergreifen und solche Prozesse anstoßen. Das können zum Beispiel kommunale Mitarbeiter:innen sein, die Verantwortung für ein Gebiet übernehmen, Anstöße geben, Menschen aktiv einbinden und zu Interaktionen bewegen. Sie können auch eine Anlaufstelle für Haushalte sein, die sich zum Beispiel verkleinern wollen oder Ideen für die Nachbar:innenschaft haben. In der Verwaltung könnten zum Beispiel Sozialarbeiter:innen und Stadtplaner:innen im Siedlungs- und Flächenmanagement im Tandem arbeiten und eine Brücke schlagen zwischen sozialer und planerischer Perspektive.
Planspiele
Mit Planspielen können Einfamilienhaus-Bewohner:innen dabei unterstützt werden, die eigene Lebenssituation aus einer Metaebene zu betrachten. Gleichzeitig können die kommunalen Planer:innen wichtige Erkenntnisse daraus ziehen: Wie müssen neue Entwicklungen zukünftig aussehen, damit sie auf Akzeptanz stoßen? Welche Qualitäten sind Bewohner:innen besonders wichtig? Bedeutsam ist es, einen niederschwelligen Prozess auf Augenhöhe anzustreben und gemeinsam über die Zukunft von bestehenden Einfamilienhausquartieren nachzudenken. Vermittelnde Akteur:innen, die eine neutrale Rolle einnehmen, sind ein wichtiger Bestandteil solcher Planspiele. Das können neben beratenden Planungs-, Partizipations- und Moderationsexpert:innen auch Wissenschaftler:innen, Studierende, Initiativen oder Kunst- und Kulturschaffende sein.
Hier einige Beispiele solcher Planspiele mit Einfamilienhausbewohner:innen:
Quellen
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1
Stieß, Immanuel; Sunderer, Georg; Birzle-Harder, Barbara 2020: Wohnsituation und Wohnwünsche von älteren Hauseigentümer*innen und Umzugsinteressierten im Kreis Steinfurt. Ergebnisse einer telefonischen Befragung. Frankfurt am Main: ISOE
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2
Statista Research Departement 2022: Statistiken zu Tiny Houses. In Statista, Zugriff am 14.Juni 2023 von https://de.statista.com/themen/8392/tiny-houses/#topicOverview
Titelbild
Verena Marie Loidl