Das Einfamilienhaus – Überlegungen aus wohnsoziologischer Perspektive
Ein Gastbeitrag von Dr. phil. Gerd Kuhn
In den Gesellschaften der westlichen Moderne stellen die private Rückzugssphäre und die öffentliche Kontaktsphäre eine wesentliche Ordnungsstruktur zur Regulation von Privatheit dar. Dies beschrieb bereits in den 1960er Jahren Hans Paul Barth in seiner Untersuchung zur modernen Großstadt
Eine anthropologische Konstante stellt der Wunsch der Menschen nach klaren Grenzziehungen dar. Augenfällig kann eine Territorialisierung des privaten Lebens besonders im freistehenden Haus durch „Abstandsgrün “, also durch die umgebenden Hecken, Zäune, Grünstreifen und Gärten, erreicht werden. Die klare räumliche Grenzziehung schafft so begrenzte Refugien des privaten Lebens.
Inzwischen stehen zentrale Grundannahmen, die für das Wohnen im Einfamilienhaus sprachen, im Widerspruch zu wichtigen Determinanten der gesellschaftlichen Entwicklungen. So ist eine funktionale Aufspaltung des Lebens in Räume des privaten Wohnens, des Arbeitens und der Freizeit längst überwunden. Nicht erst seit der Corona-Pandemie greifen Wohnen und Arbeiten wieder ineinander.
Wie keine andere Wohnform ist das Einfamilienhaus auf die soziale Nutzung durch Familien fokussiert. Dieser Idealtypus modernen Wohnens, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der Wohlfahrtsstaatsbildung herausbildete, ging von einer Zwei-Generationen-Familie – Eltern plus Kinder – aus. Inzwischen findet nicht nur eine Pluralisierung der Haushaltstypen statt, sondern auch der Familienforme
Eine Transformation des Einfamilienhauses auf heutige, vielfältig veränderte Sozialstrukturen, Lebensweisen und Wohnbedürfnisse war baulich jedoch nicht vorgesehen. Der räumlichen Adaptionsfähigkeit sind deutliche Grenzen gesetzt, da das Leben sich eng in den von den Architekten entworfenen Wohnmustern zu bewegen hatte. Es gab eine klare funktionale Zuordnung und eine Hierarchisierung der Räume. So stellte das „Wohnzimmer“ immer den größten Raum dar und das „Elternschlafzimmer“ war größer als das „Kinderschlafzimmer“. Der Flur und die verschämten Räume (Toilette, Bad) wurden minimiert.
Baulich und sozial war der Nutzungszyklus eines Einfamilienhauses zudem auf die Familienphase bezogen. Verständlich und gleichzeitig problematisch ist allerdings, dass die Eltern nach dem Auszug der Kinder oftmals weiter in der großen Familienwohnung wohnen bleiben, was die Daten des Statistischen Bundesamtes anschaulich zeigen. Insbesondere die Eigentümer:innen der Einfamilienhäuser zeigen wenig Interesse, nach der Familienphase in eine kleinere Wohnung zu ziehen. So lebt die Gruppe der älteren Menschen (über 65 Jahre) besonders häufig allein, und sie haben im Schnitt den größten Wohnraum. Unterscheidet man noch zwischen den älteren Eigentümer- und Mieterhaushalten, so nehmen in den Eigentümerwohnungen die mindestens 65-Jährigen 78,1 Quadratmeter pro Kopf in Anspruch und die älteren Mieterhaushalte nur 58,3 Quadratmeter
Häufig wird aus ökologischen und städtebaulichen Gründen eine „Verdichtung“ der Einfamilienhausgebiete gefordert. Dabei ist jedoch zu differenzieren, denn eine soziale Dichte kann verschiedene Qualitäten ausdrücken. In der Regel wird zwischen density (Dichte) und crowding (Beengtsein) unterschiede
Eine einfach Bewältigungsstrategie gegen Dichtestress (Beengungserleben) wäre Distanz. Eine andere Bewältigungsstrategie (Coping), ist der behutsame Schutz der Intimität im privaten Wohnbereich und die Schaffung von sozialer Nähe durch Kommunikationsmöglichkeiten, Sicherheit und Vertrauen im sozialen Nahbereich (Nachbarschaft). Erst durch diese Qualitäten wird ein zufälliger Nachbar, der in mein „Minimalterritorium“ drängt, nicht mehr als Eindringling wahrgenommen, dem mit Abwehr zu begegnen is
Was können wir tun
Einfamilienhausgebiete bereiten nicht nur Probleme, sondern in ihnen schlummern enorme Potentiale. Zukünftig sollten die Geschehensqualitäten deutlich gefördert werden. Es sind also aktivierende und fußläufig erreichbare Kommunikations- und Begegnungsräume zu schaffen. Die Behebung der funktionalen Defizite kann dazu führen, dass eine größere räumliche Nähe, beispielsweise durch erweiterte räumliche und bauliche Angebote eine größere soziale Nähe herstellen. Die Zukunft der Einfamilienhausgebiete liegt nicht in deren Zerstörung und grundlegenden Neuplanung, sondern in ihrer behutsamen Transformation durch eine Qualifizierung.
Das private Leben im Haus und vertraute, sichere Orte im sozialen Nahbereich (Quartier) sind gleichermaßen bedeutsam und zwei Seiten der gleichen Münze. „Nähe bedeutet Verantwortung – Verantwortung ist Nähe“, so eine treffende Aussage von Zygmunt Bauman
Statt weiter Begriffe wie „innerer Leerstand“ und Nachverdichtung zu benutzen, sollte die Sprache präzise angewandt und neue Angebote entwickelt werden, die zu einer Geborgenheit im Raum führen. Es sollte eine soziale und bauliche Vielfalt entstehen und zu unterschiedlichen Angeboten führen, die Raum für unterschiedliche Wohnkarrieren lassen (Familienphase, „empty nest“ und Formen des Alterswohnen). Wichtiger vielleicht als das Wohnen im eigenen Haus, sind Wohnoptionen in der langjährig vertrauten Wohnumgebung. Neue Wohnangebote müssen die Geborgenheit im vertrauten sozialen Nahbereich sichern. Eine Reform der Einfamilienhausgebiete erfordert Bleibeangebote, indem sozialräumliche Defizite ausgeglichen und besonders aktivierende Sozial- und Kommunikationsräume im Quartier geschaffen werden.
Quellen
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Destatis, Statistisches Bundesamt (Hg. 2021): Von Januar bis Dezember 2020 genehmigte Wohnungen: 59% in Mehrfamilienhäusern. Pressemitteilung vom 25. Februar 2021 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/02/PD21N01544.html; Zugriff 8.11.2023
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Baumann, Zygmunt (2007): Leben in der flüchtigen Moderne. Frankfurt (Suhrkamp), S. 198
Titelbild
BDA Württemberg 1954 "Was der Bauherr wissen sollte“