Ist das Einfamilienhaus ein Ort der Einsamkeit?
Ein Gastbeitrag von Petra Potz und Nils Scheffler
Können Einfamilienhaussiedlungen einsam machen? Welche Faktoren erhöhen das Einsamkeitsrisiko? Mit welchen Ansätzen können Einfamilienhaussiedlungen einsamkeitsresilienter werden?
Im Kooperationsprojekt der Wüstenrot Stiftung „Einsamkeit. Neue Anforderungen an lebendige Quartiere“ steht die gebaute Umwelt als Handlungsebene im Fokus. Es geht um die Frage, wie sich Quartiere, Nachbarschaften und das Wohnumfeld gegen Einsamkeit wappnen können. Mit ihren städtebaulichen Strukturen und ihrer infrastrukturellen Ausstattung, dem öffentlichen Raum und den Teilhabeangeboten können Quartiere entscheidend dazu beitragen, dem Einsamkeitsgefühl entgegenzuwirken. Entwickelt werden praxisorientierte Maßnahmen und Instrumente, um im Quartier einen Beitrag zur Bewältigung und Verringerung der Einsamkeit zu leisten.
Einsamkeit ist überall
Einsamkeit geht alle an und ist überall zu finden, in jeder Lebensphase, in jedem sozialen Gefüge, in jeder städtebaulichen Situation. In den Einfamilienhaussiedlungen der 1950er bis 1970er Jahre boten das Wohnumfeld und die Siedlungsstruktur zunächst wenig Raum für Begegnungen außerhalb des familiären Zusammenhangs, autogerechte Mobilität war selbstverständlich. Es ging eher um das reibungslose Funktionieren der mittelständischen Kleinfamilie zwischen Beruf, Schule und Haushalt. Diese Siedlungen sind mit ihrer Bewohnerschaft gealtert, die Kinder sind längst aus dem Haus, eine Generation von Ein- bis Zweipersonenhaushalten bewohnt die Eigenheime, sie sind eher zu „Einpersonenhäusern“ geworden. Junge Familien, die heute Wohnraum suchen und in den Einfamilienhausgebieten zu einem Generationswechsel führen, haben häufig andere Ansprüche an Ausstattung und Charakter des Umfelds, die eventuell auch der älteren Bewohnerschaft und damit einer neuen generationenübergreifenden Nachbarschaft zugutekommen können.
Nach aktuellem Stand, wobei es keine breite Datengrundlage gibt(!), scheinen Einfamilienhaussiedlungen per se nicht stärker von Einsamkeit betroffen zu sein als z.B. Großwohnsiedlungen oder kompakte Innenstadtquartiere. Nicht der Siedlungstyp „Einfamilienhaus“ an sich ruft eine eventuelle Einsamkeit hervor. Es sind vielmehr Faktoren, wie z.B. die Lage und Anbindung, die städtebauliche Qualität, die infrastrukturelle Ausstattung, Teilhabemöglichkeiten sowie die sozio-ökonomische und demografische Zusammensetzung, die Einsamkeitsgefühle verstärken oder ihnen entgegenwirken können.
14% der in Deutschland Lebenden fühlten sich 2017 einsam, 2021 waren es bedingt durch die Pandemie sogar 42%.
Faktoren für ein höheres Einsamkeitsrisiko
Folgende Faktoren einer Einfamilienhaussiedlung können das Einsamkeitsrisiko der Bewohner erhöhen:
Große Distanz
zum Zentrum einer Region, d.h. zu Orten mit einem breiteren Infrastruktur- und Dienstleistungsangebot
Hoher Anteil an einsamkeitsgefährdeten Haushalten wie z. B.
Alte und hochaltrige Personen, oftmals in Einpersonenhaushalten, mit zunehmenden körperlichen oder gesundheitlichen Einschränkungen sowie Verlust von Freunden, Familienmitgliedern und Ehepartnern
Paare in einer Krise z.B. durch Verlust des Arbeitsplatzes, Partnerkrise, Trennung, Wegzug der Kinder
Personen, die sich vorwiegend um Haushalt, Kinder und Familienangehörige kümmern oder so stark im Berufsleben eingespannt sind, dass sie wenig Zeit für soziale Kontakte haben
Monofunktionaler Charakter
keine oder nur weiter entfernte Grünanlagen und Freizeiteinrichtungen, die zum Verweilen einladen und außerhäusliche Aktivitäten ermöglichen
fehlende bzw. entfernte Gemeinschaftsflächen und -einrichtungen, wo Begegnung und Nachbarschaft für unterschiedliche Altersgruppen gepflegt werden können
fehlende wohnortnahe Orte der Alltagsversorgung (Bäcker, Gastwirtschaft, Kirchengemeinde), die Gelegenheit zum zwanglosen Gespräch und Austausch mit anderen Anwohnern bieten
Mobilitätseinschränkungen
Schlechte Anbindung an den ÖPNV, so dass nicht motorisierte Personen in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind
Physische Barrieren sowohl innerhalb von Einfamilienhäusern als auch im Wohnumfeld, die Menschen in ihrer Mobilität und beim Verlassen des Hauses einschränken
Fehlende soziale Teilhabe
Fehlende Mitwirkungsangebote und -möglichkeiten, die Gelegenheit zur sozialen Interaktion und zum Engagement in der Nachbarschaft bieten
Nicht genutzte oder nicht vorhandene Räume und Begegnungsorte in der Wohngegend für nachbarschaftliche Beziehungen
Fortzug bzw. Versterben der Anwohner, wodurch nachbarschaftliche Beziehungen wegbrechen
Je nach Ausprägung dieser Faktoren in einer Einfamilienhaussiedlung, vor allem in deren Kombination, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dort ein erhöhtes Einsamkeitsrisiko für die Bewohner besteht.
Call to Aktion
Wenn oben beschriebene Faktoren in einer Einfamilienhaussiedlung zusammenkommen, sollte z.B. über eine (repräsentative) Befragung ermittelt werden, ob Einsamkeit tatsächlich anzutreffen ist. Hierfür gibt es bereits unterschiedliche, wissenschaftlich entwickelte Fragebögen (UCLA, HES, NYU-LS, RTLS), die ca. 6-20 Fragen enthalten, aus denen Rückschlüsse gezogen werden können, ob die befragten Personen unter Einsamkeit leiden. Wird das Vorhandensein von Einsamkeit bestätigt, könnten Maßnahmen ergriffen werden, die helfen, eine gute Nachbarschaft aufzubauen und zwischenmenschliche Beziehungen zu stärken.
Was können wir tun
Erste Lösungsansätze gegen Einsamkeit in Einfamilienhausgebieten
Grün- und Freiflächen (z. B. Pocket Parks mit Plauderbänkchen, kleinere Sport- und Spielflächen) schaffen bzw. in ihrer Aufenthaltsqualität aufwerten, so dass sie zum Verweilen einladen. Damit lassen sich spontane Begegnungen, Kontakte und Interaktionen mit Menschen aus der Nachbarschaft bzw. eine zwanglose Kommunikation befördern
Gemeinschaftseinrichtungen wie Nachbarschaftskaffees oder lokale Treffs einrichten, in denen Menschen unterschiedlichen Alters zu einem Miteinander, Austausch, zur Mitwirkung und emotionalen Unterstützung zusammenkommen können
Vereine in der Umgebung für das Thema Einsamkeit sensibilisieren und ihnen Hilfestellung geben, was sie tun können, um Einsame zu integrieren bzw. wie einsame Personen unterstützt werden könnem
Abbau physischer Barrieren und Schwellen in Einfamilienhäusern und dem Wohnumfeld
Gegenseitige Unterstützungsaktivitäten in der Nachbarschaft fördern, z. B. bei der Kinderbetreuung, Lesepatenschaften, gemeinsame Spaziergänge
Bildung von Fahrgemeinschaften und ehrenamtlichen Bringdiensten, um nicht motorisierte Personen in ihrer Mobilität zu unterstützen
Einladend gestaltete öffentliche Räume, die zum Laufen und Spazierengehen anregen
Die Anwohner sollten in Umbau- und Verbesserungsmaßnahmen des Wohnumfelds eingebunden werden. Bereits dies kann die Entstehung von Nachbarschaften und sozialem Engagement fördern.
Es ist aber auch festzuhalten, dass Begegnungs- und Mitwirkungsgelegenheiten allein nicht ausreichen, um Einsamkeit zu begegnen. Für Menschen, die sich aufgrund ihrer Einsamkeit zurückgezogen haben, stellt das Aufsuchen solcher Orte eine Hürde dar. Daher genügt es nicht, Begegnungsorte im öffentlichen Raum oder in Gebäuden zu schaffen und darauf zu warten, dass einsame Menschen vorbeikommen. Es kommt vor allem darauf an, offen zu sein und Brücken in die Lebenswelten unfreiwillig einsamer Menschen zu bauen.
Quellen
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1
Bücker, Susanne (2021): Einsamkeit - Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten. Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung, BT-Drucksache 19/25249
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Luhmann, Maike (2022): Definitionen und Formen der Einsamkeit. KNE-Expertise 1/2022 https://kompetenznetz-einsamkeit.de/publikationen
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3
Neu, Claudia; Müller, Fabian (2020): Einsamkeit – Gutachten für den Sozialverband Deutschland, SOVD
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4
Neu, Claudia (2022): Place matters! Raumbezogene Faktoren von Einsamkeit und Isolation – Erkenntnisse und Implikationen für die Praxis. KNE Expertise 8/2022 https://kompetenznetz-einsamkeit.de/publikationen
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5
Noack, Michael; Jessen, Frank (2023): Bowling alone? Soziale Orte und Einsamkeit im Wohnquar-tier. In: Soziale Arbeit, Bd. 72, 7, S. 256-263
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6
Potz, Petra; Scheffler, Nils (2023): Integrierte Stadtentwicklung und Einsamkeit. KNE Expertise 14/2023 https://kompetenznetz-einsamkeit.de/publikationen
Titelbild
Wüstenrot Stiftung